Das Schuldrama geht weiter

Um seine Kinder in eine öffentliche italienische Schule zu schicken, braucht man eine gute Portion Gelassenheit, Flexibilität und Abenteuerlust. Ausserdem ist es sehr, sehr, sehr wichtig, sich mit den anderen Eltern zu vernetzen, um an wichtige Informationen heranzukommen.

Was anderswo unmöglich wäre, wird hier nicht so streng gesehen: Montagmorgen ist es normal, dass die meisten Kinder zu spät kommen. Wenn es Streiks gibt, sehr stark regnet oder gar schneit, fällt die Schule von heute auf morgen aus. Wenn die Eltern im Februar Skiferien machen wollen, nehmen sie die Kinder einfach aus der Schule und machen ihre „settimana bianca“, denn offizielle Winterferien gibt es nicht. Wenn es an einem Donnerstag einen Feiertag gibt, entscheidet jede Schule einzeln darüber, ob sie einen Brückentag macht oder nicht. Es macht aber auch nichts, wenn die Kinder an dem Brückentag nicht zur Schule kommen, wenn die Schule eigentlich offen hat.

An unserer Schule herrscht Lehrermangel und deshalb hat unser kleiner Sohn Francesco an den langen Tagen nicht bis 16.30 Uhr Schule, wie sein grosser Bruder, sondern nur bis 16 Uhr. Unpraktisch, aber zum Glück ist der Supermarkt gleich um die Ecke und die 30 min reichen gerade, um Lebensmittel einzukaufen.

In den ersten Schulwochen gab es langwierige Diskussionen, weil es für viele arbeitende Mütter wichtig war, dass die Kinder doch auch an den kurzen Tag in der Schule essen und erst um 14.30 abgeholt werden müssen. All diesen Zeitverschiebungen waren mir noch nicht ganz klar und so stand ich mit den anderen Müttern vor dem Sekretariat, wo dann zwei Mütter und eine Schulangestellte in Maschinengewehrgeschwindigkeit die verschiedenen Uhrzeitvarianten diskutierten bis mir schwindelig wurde und ich jeden Ueberblick verloren hatte: „A l’una? No, alle quattordici-trenta! Alle quattro? alle quattro e mezzo! ...quattroemezzodrediciquattrotrenta quattrodieciberoeirjksdfnmjhrifhijder......auiiiiiuuuuuutttoooooo!!

Am Donnerstag der ersten Woche stand ich plötzlich vor einer verschlossen Schultür als ich Francesco abholen wollte. Zum Glück erklärte mir eine andere Mutter, dass die Kleinen seit letztem Schuljahr um 16 Uhr, um die Ecke an einem anderen Eingang abgeholte werden müssen, damit es weniger Stau beim Verlassen der Schule gibt. Ganz habe ich allerdings ehrlich gesagt immer noch nicht verstanden, warum dass so sein muss, denn Stau gibt es immer und an jeder Tür.

In der zweiten Woche kam die Materialliste für Francesco:

 

Um die zu verstehen, brauchte ich ein Lexikon und die Hilfe des netten Verkäufers im Schreibwarenladen. Und selbst der war teilweise überfordert.

In den ersten Wochen hiess es, dass die Kinder kein Pausenbrot bräuchten. Die "Merenda" würde von der Schule gestellt. Ok, wunderbar. Bis ich eines Nachmittags einen Anruf einer Mutter einer Klassenkameradin von Emilio bekam. Sie erklärte mir, dass die Kinder, die nicht jeden Tag in der Mensa essen, jetzt doch keine Merenda mehr bekämen und wir den Kindern Pausenbrote mitgeben müssten. Emilio hatte an dem Tag nichts zu Essen dabei gehabt und war in der Klasse vor Hunger in Tränen ausgebrochen. Da meine Kinder mir nichts aus der Schule erzählen, hatte ich keine Ahnung. Nach ein paar Wochen hiess es dagegen wieder, dass die Kinder  nicht nur kein Pausenbrot mehr bräuchten, sondern, dass es sogar aus hygienischen Gründen verboten sei, eigenes Essen in die Schule mitzubringen.  Wer soll das noch verstehen!!

Nach ein paar Wochen fragte ich die Lehrerin, ob Francesco nicht Sportsachen bräuchte. „Ach, wir wissen noch gar nicht, ob wir einen Platz in dem Turnraum organisiert kriegen!“ war die Antwort. Nach und nach erfuhr ich, dass der Schulsport in Italien eher eine Privatveranstaltung für nach der Schule ist.

Im Oktober war Elternabend. Da die Eltern der 5. Klasse von Emilio sich über einen Yahoo-Blog und eine Mailingliste vernetzt hatten, wusste ich Bescheid. Leider sind die Eltern von Francescos Klasse nicht so toll organisiert und so habe ich erst als ich schon in Emilios Klassenzimmer sass, erfahren, dass für Francescos Klasse zeitgleich der Elternabend war. Mein heldenhafter Mann war leider nicht da und so ging ich halt zuerst in Franzis Klasse und dann in Emilios. Der Ablauf des Elternabends war völlig chaotisch: Es gab keine Agenda, man hatte keine Ahnung, wie lange das ganze dauern sollte und um was es eigentlich ging. Wie immer wenn viele in einer anderen Sprache durcheinander sprechen, musste ich mich ziemlich konzentrieren, um irgendwas zu verstehen. Erschwerend kam hinzu, dass die Fenster zum Hof offen waren und dort eine Horde Kinder grölte, weil sie gerade ihre Basketballstunde hatten.

Im Wesentlichen ging es eigentlich nur darum, ob man wie letztes Jahr noch einen zusätzlichen, von den Eltern finanzierten Musikkurs durchführen würde oder doch lieber einen Theaterkurs. Dazwischen erschien der Herr, der den Musikkurs im letzten Jahr durchgeführt hatte und erzählte Dinge, die ich fast gar nicht verstehen konnte, da er sehr schnell und sehr römisch sprach.
Der römische Dialekt hört sich ngefähr so an:

https://www.youtube.com/watch?v=gz7S_BCfCaA

Die Eltern gingen rein und raus, weil sie noch in die Klassen der Geschwisterkinder schauen mussten. Manchmal telefonierte eine Mutter, um zu sehen, ob sie die Dame erreicht, die vielleicht den Theaterkurs durchführen könnte. Ich schwatzte mit anderen Müttern und versuchte, mich so bald wie möglich davon zu schleichen.

Nach zwei Monaten bekamen die Kinder ihre Schulbücher. Auch dafür gab es einen reichlich komplizierten Prozess. Jeder Kind bekam einen Berechtigungsschein für seine Bücher, damit mussten alle Eltern einzeln in einen Buchladen im Viertel gehen, die Bücher bestellen, eine Woche warten, die Bücher abholen und schliesslich noch die Quittung über den Empfang der Bücher wieder bei den Lehrern abgeben.


Auch nach zwei Monaten, bekam ich einen Stundenplan für Emilios Schulwoche. Ein fast schwarze Kopie mit einer für mich unverständlichen Liste von kryptischen Abkürzungen.
 


Welche Fächer Francesco eigentlich hat, habe ich erst in seinem Zeugnis für die ersten 4 Monate erfahren. Und warum kriegt man im Februar ein Zeugnis für ein „Quadrimestre“, wenn die Schule im September angefangen hat?

In den ersten Wochen hat Emilio nur einen Lehrer, der mit ihnen Mathe, Geschichte, Geografie und Italienisch machte. Emilio fand das ein bisschen langweilig. Schliesslich tauchte doch noch eine Italienischlehrerin auf.

Eine Lehrerin reiste jeden Tag aus Caserta (200 km) mit dem Zug an. Die Mathematiklehrerin von Francesco kam oft nicht, weil ihre Mutter krank war.

Die Eltern bemühen sich alle sehr, die Lücken dieses Systems auszufüllen. Da der Englischunterricht nicht viel bringt, schicken viele ihre Kinder noch nach der Schule auf eigene Kosten zum Englischunterricht.

Die vorbildlich organisierten Eltern von Emilios Klasse verwalten sogar ihr eigenes Geld, das sie immer für die verschiedensten Ausflüge oder Sonderausgaben sammeln. Da sie Geld übrig hatten, haben sie sich dafür eingesetzt, mit diesem Geld die Reparatur der Toiletten in der Schule zu finanzieren. Bei einigen Toiletten funktioniert die Spülung nicht, bei anderen läuft die Spülung in einem durch, weil die Schwimmer kaputt sind. Auch einige der Wasserhähne der Waschbecken schliessen nicht mehr richtig…

Mit Spannung konnte ich die Diskussion den bürokratischen Schwierigkeiten verfolgen, die mit dieser Initiative verbunden sind. Bisher ist es den Eltern noch nicht gelungen, die Reparatur der Schultoiletten organisieren und finanzieren zu dürfen.

Auch das Toilettenpapier muss von den Eltern gestellt werden. Wie man sieht, war es Francesco sehr peinlich die Grosspackung TP in die Schule zu tragen:



Das TP Problem scheint es nicht nur in unserer Schule zu geben und ist auch nur die Spitze des Eisbergs – sozusagen ein Symbol. Durch Zufall bin ich auf ein Projekt eines Stromversorgers gestossen: Wenn die Eltern ihren Strom bei Sorgenia beziehen, dann sammeln sie Punkte und für diese Punkte gibt es dann für die Schule ihrer Wahl TP, Kopierpapier, Druckerpatrone DVD Player, Mikroskope und alles mögliche andere Material, dass es in den öffentlichen Schulen nicht gibt.


So was nennt man dann „Cause Related Marketing“. Sehr interessant.

Die Schulen Italiens kämpfen ganz allgemein mit alten Bauwerken, veraltetem oder fehlendem Material und zu kleinen Budgets. In einem Artikel über die Schulen in Roms Centro Storico habe ich sogar gelesen, dass in manchen Schulen nicht genügend Stühle und Tische für die neuen Schüler da sind.

Wie man an folgendem Foto zum Medienraum unserer Schule sieht, gibt es viel Potential für Moderniserungen:


Während des grossen Schnees in diesem Winter und der damit verbunden ungewöhnlichen Kälte, gab es in manchen Schulen in Süditalien ausserdem Probleme, weil die Heizung nicht funktionierte.

Trotzdem gehen unsere Kinder hier gerne in die Schule. Das Essen in der Kantine ist biologisch (Das wurde mal gesetzlich festgelegt!). Wir sind immer sehr happy, wenn die beiden fröhlich mit ihren Schulrucksäcken in den heruntergekommenen Schulgängen verschwinden. Sie wurden beide sofort in ihre Klassen integriert und haben Freunde gefunden. Schon in der zweiten Woche waren sie zu Kindergeburtstagen eingeladen, wir waren auf der Halloween Party und hatten viel Spass auf der Faschingsfete. Wenn Klassenkameraden in dem Park bei uns gegenüber zum Spielen gehen, rufen sie an und fragen, ob wir auch kommen. Viva Italia!

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